
Darum geht’s:
Die Grahams sind wortwörtlich verflucht. Nach dem Tod der Großmutter und Matriarchin Ellen Graham wird die vierköpfige Familie von einer Tragödie nach der anderen heimgesucht. Dabei ist die Geschichte der Grahams schon traurig genug. Mutter Annie (Tony Collette) sieht immer mehr Verbindungen zu übernatürlichen Kräften aus Jenseits und Hölle, die den Wahnsinn erklären – oder wird Annie einfach selbst wahnsinnig?
Revolution Horrorfilm
Mit Gruselfilm-Reihen wie The Conjuring, Insidious und Paranormal Activity hat das Horror-Genre im letzten Jahrzehnt einen echten Aufschwung erlebt. Hirnlose Splatter-Orgien will zum Glück kaum noch jemand sehen und wurden mit Fackeln und Mistgabeln aus dem Kinoprogramm vertrieben. Der Horror solle im Kopf stattfinden! Das ist zumindest das inoffizielle Motto der neuen Generation von Horrorfilmen. Doch während gerade Filme wie The Conjuring mit ihren Jumpscares stark an eine Geisterbahnfahrt erinnern, verzichtet Regie-Debütant Ari Aster auf all diese Gimmicks, um echten Kopf-Horror zu erschaffen, der sich auch noch für Tage und Wochen nach dem Kinobesuch ins Langzeitgedächtnis einbrennt.
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Was macht uns wirklich Angst?
Hereditary ist nicht unbedingt traumatisierend, sondern viel mehr verstörend. Die Schmerzgrenze des Zuschauers wird auf die Probe gestellt, aber nie überstrapaziert. Der Horror deutet sich meist nur an, bleibt aber weitgehend verdeckt. Besonders unheimlich sind zum Beispiel verschwommene Schatten und Silhouetten im Hintergrund, die für den Zuschauer kaum erkennbar sind. „Sitzt da jemand in der Ecke, oder bilde ich mir das nur ein?“ Der Moment eines erlösenden „Buh!“ wird immer wieder verschoben, so dass man vor lauter Anspannung am liebsten in den Kinosessel versinken würde.
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Wenn es dann doch mal knallt, dann richtig. Ohne Vorwarnung hält uns Aster den Horror ins Gesicht, den wir uns davor nur im Kopf ausgemalt haben. Dieser Film präsentiert einen Gegenentwurf zum klassischen Jumpscare, den man ja meistens per Countdown mit runterzählen kann. In Hereditary ist das nicht möglich.
Noch beeindruckender ist, dass es nicht nur die typischen Grusel-Elemente sind, die Hereditary so angsteinflößend machen, sondern unangenehm reale Themen. Was macht uns schon wirklich Angst? Mit Sicherheit nicht Geister, Hexen und Zombies. Stattdessen werden Themen wie Tod, Trauer und Wahnsinn in den übernatürlichen Kontext eines klassischen Horrorfilms gestellt.

Die Grahams (von links: Milly Shapiro, Tony Collette, Gabriel Byrne, Steve Wolff) werden vom Unglück verfolgt. Jedes Familienmitglied geht mit der Belastung anders um...
Reale und fiktive Dämonen
Wie hervorragend die Kombination aus Drama, Psychothriller und Horror funktioniert, hat zuvor schon The Babadook bewiesen. Während sich dieser allerdings als Drama im Horror-Kostüm präsentiert, ist Hereditary ein Horrorfilm im Drama-Kostüm. Der Film beginnt als Familiendrama und verwandelt sich nach und nach in einen übernatürliche Geistergeschichte.
Regisseur Aster verarbeitet mit Hereditary seine eigene tragische Familiengeschichte. So grausam der Film auch ist, tatsächlich wird er durch Geister und Dämonen weniger verstörend und beinahe kathartisch, als wenn das Geschehen in ein durchweg realistisches Setting übersetzt wird. Die Fantasy-Anteile liefern den nötigen Eskapismus, den man braucht, um das Geschehen in Hereditary zu verarbeiten.
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Penibel durchdachte Filmkunst
Ari Aster hat sein Regie-Debüt lange geplant und mit neurotischer Perfektion umgesetzt. Das merkt man an jeder Kameraeinstellung, die genau weiß, was sie wie zeigen soll und was nicht. Kongenial ist zum Beispiel der Einsatz von Modell-Szenerien. Hauptcharakter Annie Graham fertigt während des Films immer wieder Miniatur-Modelle von echten Settings aus dem Film an, die wir, aufgrund intelligenter Kamerafahrten, nicht immer von echten Sets unterscheiden können – ein unheimliches Motiv und der Beweis einer individuellen Regie-Handschrift.
Auch der subtile Einsatz von Soundeffekten, der beinahe ganz auf laute Schock-Geräusche verzichtet, bringt Nackenhaare zum stehen. Während Hereditary werden immer wieder markante Geräusche eingeführt, die mit bestimmten Ereignissen oder Menschen assoziiert werden. Sobald dieses Geräusch im Film auftaucht, sorgt es für echten Psychoterror.
Tony Collette: Beste Hauptdarstellerin 2018

Jeder Gesichtsmuskel, jede Furche und jede Falte von Tony Collette zuckt vor Wahnsinn.
Genug Lob für Regisseur Ari Aster – der Cast in Hereditary is nicht weniger stark. Die vierköpfige Familie Graham, die nur auf den ersten Blick in das klassische Bild einer amerikanischen Vorortsfamilie passt, ist derart passend besetzt, dass man den Gedanken an „Rollen“ und „Schauspieler“ komplett vergisst. Newcomerin Milly Shapiro als das obligatorische "gruselige Horrorfilm-Mädchen" bricht mit ihrer einzigartigen und bizarren Präsenz aus dem Genre-Mittelfeld aus.
Tony Collette, die schon in The Sixth Sense eine überforderte Mutter gespielt hat und dafür eine Oscar-Nominierung mitnehmen durfte, zeigt in Hereditary die komplexeste und beste Performance ihrer Karriere. Irgendwo zwischen Depression, Manie, Standhaftigkeit und Zerbrechlichkeit findet Collette eine goldene Mitte, die immer wieder in eine der Extreme ausschlägt. Ihre Rolle als Mutter Annie, die vom Schicksal immer wieder in die Knie gezwungen wird, ist nicht nur herzergreifend, sondern auch angsteinflößend. Hereditary zeigt, ähnlich wie The Babadook, wie sehr sich Familienmitglieder durch traumatische Ereignisse voneinander entfremden können.
Fazit:
'Hereditary' ist der (bestreitbar) beste Horrorfilm des Jahrzehnts
Das hört sich erstmal wie eine voreilige Übertreibung an. Doch welcher Horrorfilm der letzten acht Jahre kann Hereditary in Sachen Intelligenz, Finesse und Wahnsinn schon übertrumpfen? Die Liste der Konkurrenten ist kurz. Hereditary ist unberechenbar, verstörend und erfrischend anders. Regisseur Ari Aster liefert nicht nur eines der eindrucksvollsten Regiedebüts aller Zeiten ab, er katapultiert sein Erstlingswerk auch in die Hall of Fame der großen Horror-Klassiker wie Psycho, Shining und The Sixth Sense. Nicht jeder wird Ari Asters individuelle Regie-Handschrift lesen können und nicht jeder wird mit dem pechschwarzen „Over-the-top“-Finale zufrieden sein. Doch gerade wenn man Hereditary zwischen den Zeilen liest, offenbaren sich die wahren Abgründe des Wahnsinns.