Darum geht’s
Der schüchterne Fabietto (Filippo Scotti) beginnt gerade erst, sein Interesse an Frauen zu entdecken, als ein Unglück sein Leben schlagartig aller kindlichen Harmonie beraubt. Aller Haltepunkte beraubt tastet sich der junge Fabietto an die Liebe, Freundschaft und das Erwachsenwerden heran.
Familienglück
Bevor wir Platz am gedeckten Tisch der Familie Schisa nehmen können, erleben wir noch den vollen Wahnsinn Neapels. Menschen warten auf einen Bus, der nicht kommen wird, begegnen lokalen Sagengestalten, streiten sich und versöhnen sich. Stadtheilige, mysteriöse kleine Mönche, Casanovas, Huren und Frauenschläger. Ein moderner Märchenfilm? Nein, das sind die sagenhaften Figuren dieser Tragödie.
Dann, fast als wolle uns der Film Ruhe gönnen und Kraft tanken lassen, gibt es ein Gastmahl. Die Landschaft, die Speisen, das Beisammensein, es ist ein Fest für die Augen, der Regisseur ist sich der Magie seines Heimatlandes bewusst und fängt sie perfekt ein. La Familia hat die Tafel unter azurblauem Himmel reich gedeckt, alle sind beisammen und lachen aus vollem Herzen. Die Witze sind vulgär, man neckt sich, Frauen und Männer flirten zärtlich, dann werfen sie sich scheinbar liebevolle Beleidigungen an den Kopf – Bella Italia eben. Dies ist die Welt von Fabietto. Nachbarn tratschen über Nachbarn, Familie tratscht über Familie, Männer fachsimpeln über Fußball. Die Erwachsenen albern herum, spielen Streiche, sie sind kindischer als der unsichere Teenager selbst und bald tritt das tragende Motiv des Films an die Oberfläche: Wie soll Fabietto erwachsen werden?
Seine Familie liebt ihn, doch fehlen die Vorbilder. Sein korrupter Onkel wandert nur wenige Wochen nach dem Festmahl ins Gefängnis, die als Bestechung erhaltene Wassermelone hatte man noch genüßlich verzehrt. Und im Fernsehen muss er mitverfolgen, dass selbst der „Goldjunge“, Diego Maradona, der Messias Neapels, schummelt und keine Reue zeigt.
Fußball vs. Frauen
Und doch, Maradona bleibt sein Held, der Ankerpunkt im Leben des Jugendlichen. Als Fabiettos Bruder fragt, ob er lieber hätte, dass der Argentinier zum SSC Neapel wechselt, oder „mit der heißen Tante Patrizia vögeln“ würde, ist Fabiettos Antwort deutlich: Maradona! Ein kindlicher Traum und es wirkt, als hätte die Pubertät zu diesem Zeitpunkt noch nicht eingesetzt. Noch ahnen wir nichts von den Einschlägen, welche Fabiettos letzte Spuren der Kindheit wegblasen werden, das Drehbuch bettet uns weich auf leichtem, aber gutem Witz und malerischen Bildern, der Soundtrack ist dezent modern.
Die Story ist wunderbar dicht erzählt, die Episoden sind miteinander verwoben und die großen Themen „Pubertät/Unschuld/Entwicklung“ sind jederzeit greifbar. Paolo Sorrentino, der hier eine Version seiner Lebensgeschichte erzählt, muss sich nicht hinter komplizierter Symbolik verstecken. So erzählt Fabiettos Vater von seiner schwierigen Beziehung zum anderen Geschlecht. Damit kehrt das Drehbuch zurück zur Frage nach der Wirkkraft von Vorbildern, aber erhellt auch Hintergründe im Schaffen des Regisseurs – die Besessenheit von Frauen scheint eines seiner wichtigsten Themen zu sein.
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Als die Affäre von Vater Saverio auffliegt, bekommt die Idylle große Risse, doch Fabietto bleibt zunächst standhaft – auch im Sommerhaus konnte man trotz rissiger Fassade gut wohnen. Bis dann die größere, ungeahnte Katastrophe hineinbricht. Der Film beschreibt keine Transition in die Adoleszenz, sie ist ein unkontrollierter Unfall. In einem der vielen außerordentlich starken Dialoge fragt Fabietto seine Schwester, die schon lange von der Affäre des Vaters wusste, wann sie es ihm denn sagen wollte. „Wenn du älter bist.“ „Wann?“ „Jetzt.“. Aus Fabietto ist Fabio geworden.
130 Minuten wie im Flug
Am tiefsten Tiefpunkt, der jugendlichen Unbeschwertheit beraubt, erlebt der 17-jährige seinen Wendepunkt. Im Morgengrauen am Meer gesteht er einem Fremden: „Ich mag die Realität nicht mehr. Ich will ein imaginäres Leben, wie früher“. Dies sind die stärksten Momente, in denen die Figuren ihr Schicksal selbst begreifen und in Worte fassen. Das gelingt überdurchschnittlich oft, aber nicht immer. Die meisten Charaktere bleiben eindimensional, doch die Spielzeit, immerhin ganze 130 Minuten, verfliegt.
Zum Schluß erkennt die Hauptfigur, wohin ihr Weg führen muss. Ein bemerkenswert rundes, perfektes Ende für ein Drama, welches zwischendurch doch etwas zu groß zu werden droht. Das letzte Fünkchen Witz fehlt manches Mal, einiges gerät dafür zu derb. Sorrentino liefert eine sehr fokussierte Vision seiner Jugend ab, die weder trocken-biographisch ist, noch sich in Traumbildern und Fußnoten verfranzt. Letztlich bleibt es seine persönliche Geschichte, keine universelle Lektion über das Leben und das Erwachsenwerden.
Fazit:
Traumhafte Jugend mit Albtraum
Die Jugend ist eine Blackbox. Aus Geburtsort, Elternhaus, sozialen Umständen und der Zeitgeschichte entsteht ein Mensch. Paolo Sorrentino öffnet für uns diese Blackbox und wirft Licht auf seine eigene Jugend. Ein tragischer und zugleich hoffnungsvoller Film, zu jedem Moment voller Leben, die Bildsprache ist träumerisch. Die Geschichte bleibt eher individuell als universell, doch wer bei all der faden Massenware auf Netflix hochwertige Abwechslung sucht, ist hier richtig.